Das Reich der Mitte

Das chinesische Schriftzeichen für „Mitte“ (zhong) ist leicht zu erkennen: ein rechteckiger Kasten mit einem kräftigen, langgezogenen, senkrechten Strich mittendurch. Es ist ein einfaches, aber sehr ausdrucksstarkes Zeichen, es demonstriert Klarheit, Ordnung, Selbstbewusstsein. Zudem ist es für China und die Chinesen ein sehr wichtiges Zeichen, dass das Denken wie auch das politische System organisiert. Diese große Bedeutung lässt sich bereits daran erkennen, dass China es in seinem Namen trägt: zhong guo, Mitte-Land, nennen die Chinesen ihre Heimat, so dass die etwas lyrisch klingende Bezeichnung „Reich der Mitte“ durchaus angemessen ist. 
Schaut man einen alten Stadtplan von Peking an, so findet man auch hier das zhong. Eine rechteckige Mauer umgab die Stadt, eine durch breite Straßen und die wichtigsten Gebäude des Kaiserpalasts markierte Nord-SÜd-Achse verkörpert den senkrechten Strich. Den zhong ordnete das Denken, die Mitte gilt als die fünfte und wichtigste Himmelsrichtung, immer wieder konzentriert sich von außen alles auf das Innen, auf die Mitte. In den Palästen, in den Tempeln, selbst in den Hofhäusern wird man – heute mit Schwierigkeiten – diese Ausrichtung erkennen.
Diese Konzentration auf sich selbst stärkt das politische und historische Selbstbewusstsein. Sieht man einmal vom Kolonialismus der letzten 150 Jahre ab, dann stellten sich Staat, Gesellschaft und Kultur Chinas immer als groß und mächtig dar. Die Nachbarn wurden als Barbaren bezeichnet, die zu festgelegten Zeitpunkten zum Kaiserhof zu reisen hatten, um Tributgeschenke abzuliefern und den rituellen Kotau vor dem Kaiser auszuführen, der aus neunmaligem vollständigen Niederwerfen bestand. China war stolz auf seine Erfindungen und Entdeckungen, von denen viele europäischen Entwicklungen um Jahrzehnte, manchmal Jahrhunderte voraus waren. Und die Chinesen hielten ihre Kultur immer für Überlegen, von der Dichtkunst über die Ahnenverehrung bis hin zur Zubereitung delikatester Gerichte.